Ein Artikel mit den Themenkomplexen "Jugendstrafrecht" und "Kriminologie". In erster Linie richtet sich dieser Artikel zwar an Juristen, durchaus aber auch an den geneigten Laien. Es soll ein Bewusstsein für etwaige Missstände im Rahmen des Jugendstrafrechts geweckt werden.

Das Jugendstrafrecht: Die quantitative Eskalationslogik und ihre Folgen
Ein Aufsatz von Sebastian Klingenberg

Jugendkriminalität gehört bedauerlicherweise zu unserem Alltag. Allein im Jahr 2013 wurden laut der amtlichen polizeilichen Statistik (PKS) fast 450.000 junge Menschen als Tatverdächtige ermittelt (ausgenommen sind Verkehrsdelikte und Ordnungswidrigkeiten). Davon waren ca. 70.000 Minderjährige (< 14 Jahre), ca. 190.000 Jugendliche (14-18) und ca. 188.000 Heranwachsende (18-21). Die Gründe für Straftaten sind mannigfaltig: mangelnde Erziehung aufgrund einer schlechten Eltern-Kind-Beziehung, Alkohol-/Drogen- oder negativer Einfluss von Peers oder ein zu hohes Anspruchsniveau, um nur einige zu nennen. Der folgende Aufsatz setzt sich jedoch weniger mit eben diesen Gründen auseinander, sondern verweist vielmehr auf ein häufig anzutreffendes Problem bei der Urteilsfindung, um ein Bewusstsein hierfür zu wecken und um gleichzeitig neue kriminalpolitische Ansätze zu bieten:

Eine derartige Mannigfaltigkeit an Gründen für die Deliktsbegehung bedarf folgelogisch auch einer entsprechenden Reaktion seitens der Justiz. Notwendig ist demnach eine einzelfallbezogene Interventionsprognose. Eine solche sieht das Jugendgerichtsgesetz (JGG) - ausgerichtet am Maßstab des Erziehungsgedankens - auch durchaus vor (vgl. § 2 I 2 JGG; BGHSt 36, 37, 42: "der Erziehungsgedanke ist die Basis aller Regelungen des Jugendstrafrechts"). Allerdings mangelt es - wie aktuell erneut vom Kriminologen Michael Bock bemängelt (vgl. dazu ausführlich in NK 26. Jg. 4/2014, S. 301 ff.: Die jugendstrafrechtliche Parallelwelt, im Druck) - bei der praktischen Anwendung des Jugendstrafrechts häufig an der Umsetzung. Zum einen sind sowohl Jugendstrafrichter als auch Jugendstaatsanwälte - anders als vom JGG erwünscht - häufig nicht erzieherisch befähigt. Zum anderen bedient sich die Justiz oftmals der sog. Maßnahmenleiter (vergleichbar mit dem Vorgehen im Erwachsenenstrafrecht): Bei Ersttätern mit einer bis zu mittelschweren Deliktbegehung wird zunächst das Verfahren eingestellt, bei Wiederholung(en) Arbeitsstunden angeordnet, gefolgt von Arresten und zuletzt der Jugendstrafe, zunächst mit, dann ohne Bewährung (sog. quantitative Eskalationslogik). Eine einzelfallbezogene Interventionsprognose findet eben nicht statt, die Rechtsfolgen stehen daher häufig dem Erziehungsgedanken entgegen. Konkret heißt dies, dass bei einer Gesamtbetrachtung aller objektiven, subjektiven und die Persönlichkeit des Täters betreffenden Umstände auch bei einem Ersttäter zum Beispiel ein Arrest notwendig sein kann, wenn andere ("mildere") Maßnahmen kontraproduktiv wären. Eine solche Kontraproduktivität kann sich etwa bei solchen "Erst"-Tätern ergeben, die offensichtlich bereits mehrfach straffällig, jedoch nie erwischt wurden. In solchen Fällen kann es erfahrungsgemäß zu einem entsprechenden Lerneffekt dahingehend kommen, dass Straftaten (vorerst) keine ernsten Konsequenzen nach sich ziehen. Die Täter werden so Schritt für Schritt tiefer in die Kriminalität gesogen. Aber auch der umgekehrte Fall ist möglich. Eine harte Strafe gegen einen brutalen U-Bahnschläger ist nicht zwangsläufig das geeignete Mittel, den Jugendlichen oder Heranwachsenden wieder auf den rechten Pfad zurückzuführen. Hierbei sind allerdings Ausmaß und Art der Medienpräsenz ein häufiges Problem (wie bspw. beim Fall "Dominik Brunner"). Eine aus Laienperspektive milde - und damit ungerechtfertigte - Strafe für einen solchen Täter würde nämlich letztlich zu einem Vertrauensverlust der Bürger in die Justiz führen.

Das Problem der quantitativen Eskalationslogik spiegelt sich auch in den Rückfallquoten wider:


 

Fälle 2004

Rückfall bis 31.12.2007*

im Vergleichsjahr 1994**

Jugendstrafe ohne Bewährung

Jugendstrafe mit Bewährung

Jugendarrest

Jugendrichterliche Maßnahmen
(Erziehungsmaßregeln / Zuchtmittel)

Einstellung gem. §§ 45, 47 JGG

4.840

13.163

16.234


66.027

259.631

68,6 %

62,1 %

64,1 %


50,8 %

36,0 %

77,8 %

59,6 %

70,0 %


55,2 %

40,1 %

* vgl. hierzu Jehle u.a. 2010, S. 60 f.; ** vgl. hierzu Heinz ZJJ 2004, 435.

Diese hohen Rückfallquoten lassen aber nicht den Schluss zu, die Maßnahmen per se seien in der Praxis ungeeignet. Sie sagen weder aus, warum die entsprechenden Quoten so hoch sind, noch dass die Maßnahmen ursächlich für den Rückfall sind. Sie weisen lediglich darauf hin, dass im konkreten Einzelfall häufig ungeeignete Maßnahmen ausgewählt wurden. Es wird also deutlich, dass das starre Verwenden der Maßnahmenleiter ungeeignet ist.

Die Lösung des Problems sollte daher insbesondere in einer raschen und eingehenden Durchführung einer einzelfallbezogenen Interventionsprognose liegen. Die Angewandte Kriminologie kennt eine wissenschaftlich abgesicherte und in der Praxis erprobte Möglichkeit, die kriminologisch relevanten Stärken und Schwächen eines Menschen zu erkennen und die darauf abgestimmten Interventionsmaßnahmen im Rahmen einer klinischen Prognose zu bestimmen. Diese "Methode der idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse" (MIVEA) hebt sich demnach gerade aufgrund der Aktualität, der Individualität und der Einzelfallbezogenheit ihrer Befunde von der statistischen und intuitiven Prognose ab. Darüber hinaus erfüllt sie die wesentlichen sozialwissenschaftlichen Qualitätsmerkmale: Sie ist valide, da ihre begrifflichen Instrumente weder „ausgedacht“ oder „intuitiv“ sind, sondern in aufwendigen Vergleichen im Rahmen der sog. "Tübinger Jungtäter Vergleichsuntersuchung" ermittelt wurden (vgl. dazu Hans Göppinger: Der Täter in seinen sozialen Bezügen. Ergebnisse aus der Tübinger Jungtäter Vergleichsuntersuchung, 1983). Sie ist aufgrund ihrer sprachlichen Präzision auch reliabel. Ihre Relevanz ergibt sich schließlich aus der Angewiesenheit des Strafrechts auf einzelfallbezogene Prognosen und somit auf die Angewandte Kriminologie.

Zwar mögen die einzelnen Arbeitsschritte (Exploration, Zuordnung, Analyse, Diagnose und Prognose) durchaus zeit- und arbeitsaufwendig sein (vgl. dazu ausführlich Michael Bock: Kriminologie, 2013), allerdings lässt sich dieses Problem in einfach gelagerten Fällen umgehen, indem bereits durch das Wissen um diese Methode, die einzelnen Arbeitsschritte geistig parallel ablaufen. Daneben können zugleich die sog. "Syndrome krimineller Gefährdung" als zusätzliche Frühwarnindikatoren herangezogen werden. In komplexen Fällen besteht natürlich jederzeit die Möglichkeit ein ausführliches kriminologisches Gutachten nach dem Maßstab der MIVEA extern anfertigen zu lassen.

Daneben ist im Jugendstrafverfahren auch die Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes besonders wichtig, da sich die devianten Verhaltensweisen schnell festigen können. Daher ist es angebracht, eine solche gedankliche Prüfung der MIVEA möglichst frühzeitig durchzuführen, um unverzüglich geeignete Maßnahmen im Rahmen des § 71 JGG anordnen zu können. Das von Jugendrichter Bernd Diedrich hervorgebrachte sog. "Rüsselsheimer Modell" arbeitete eine lange Zeit sehr erfolgreich mit der Anwendung des § 71 JGG, was sich auch in den hiesigen Rückfallquoten widerspiegelte.

Das heute noch angewendete sog. "Neuköllner Modell" (entwickelt von der mittlerweile verstorbenen Berli-ner Jugendrichterin Kirsten Heisig) setzt hingegen vor allem auf das vereinfachte Jugendverfahren (vgl. §§ 76 ff. JGG), um in den geeigneten Fällen schnellstmöglich die notwendigen Maßnahmen einleiten zu können.

In der Praxis scheint es also geboten zu sein, zunächst eine kurze (geistige) Prüfung der MIVEA durchzuführen, um bereits vorab über § 71 JGG geeignete Maßnahmen anordnen zu können. Diese sollten selbstverständlich eine gewisse Eingriffsintensität nicht übersteigen, um den Grundsatz der Unschuldsvermutung nicht zu untergraben. In geeigneten Fällen wäre sodann ein vereinfachtes Jugendverfahren durchzuführen, damit ohne größere Verzögerungen weitere, gegebenenfalls auch geeignetere Maßnahmen im Rahmen des Urteils angeordnet werden können.

Im Ergebnis erscheint ein solches Vorgehen sinnvoll, um zu versuchen, die alltägliche Jugendkriminalität nachhaltig zu minimieren.

Autor: Sebastian Klingenberg
Student der Rechtswissenschaft an der JGU Mainz
und wissenschaftlicher Mitarbeiter bei einem RA
Schwerpunkte: Strafrecht / Strafrechtspflege / Kriminologie

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