Wer von einer Bundesstraße oder Autobahn auf den Ausfädelungsstreifen abbiegt, um eine Ausfahrt zu nehmen, muss vor dem Abbiegen seiner Rückschaupflicht nachkommen, so das Urteil des AG Esslingen. Auf dem Ausfädelungsstreifen darf nicht schneller gefahren werden, als auf dem durchgehenden Fahrstreifen.

Der Sachverhalt

Ein Autofahrer befuhr die Bundestraße und beabsichtigte die nächste Ausfahrt zu nehmen, um die Bundesstraße zu verlassen. Er steuerte nach rechts auf den Ausfädelungsstreifen, um von dort aus weiter zu fahren. Dabei kam es zur Kollision mit einem von rechts kommenden Fahrzeug, das sich bereits auf dem Ausfädelungsstreifen befand.

Zwischen beiden Parteien kam es zum Streit. Der ausfahrende Autofahrer sieht die Schuld beim anderen Autofahrer und behauptet, dass der von rechts kommende Autofahrer bereits auf dem Seitenstreifen fuhr, um so schneller auf den Ausfädelungsstreifen zu kommen. Der vorbeifahrende Autofahrer sieht aber eine Mithaftung von 1/3 des ausfahrenden Autofahrers, da dieser seinen Sorgfaltspflichten nicht nachgekommen sei. Der vorbeifahrende Autofahrer klagte vor dem Amtsgericht Esslingen.

Die Entscheidung

Die Klage hatte Erfolg. Der beklagte, ausfahrende Autofahrer trägt 1/3 Mitschuld. Den Beklagten trifft der Vorwurf eines Verstoßes gegen die sich aus § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO ergebenden Sorgfaltspflichten, indem er auf den Ausfädelungsstreifen abbog, ohne seiner Rückschaupflicht nachzukommen. Vor dem Abbiegen besteht eine doppelte Rückschaupflicht. Dies bedeutet, dass er vor dem Einordnen und nochmals vor dem Abbiegen auf den nachfolgenden Verkehr achten muss.

Verstoß gegen Rückschaupflicht

Eine zweite Rückschau ist nur dann nicht erforderlich, wenn eine Gefährung des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen ist. Dies ist z.B. der Fall, wenn es keinen Seitenstreifen gibt bzw. der Abstand zum rechten Fahrbahnband so gering ist, dass der Fahrer nicht damit rechnen muss, überholt zu werden und somit eine Gefährdung ausgeschlossen ist. Im vorliegenden Fall war aber ausreichend Raum bis zum Fahrbahnrand vorhanden. Selbst im Falle des Zutreffens der Behauptung des Beklagten, dass der Kläger über den Seitenstreifen gefahren sei, enthebt dies nicht von der Rückschaupflicht.

Kein Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht beim Wechsel des Fahrstreifens

Den Beklagten trifft kein Verstoß gegen die Sorgfaltspflichten beim Wechsel des Fahrstreifens gemäß § 7 Abs. 5 StVO. Hier liegt kein Wechsel des Fahrstreifens vor. Denn wer auf einem Ausfädelungsstreifen ausfährt, wechselt nicht den Fahrstreifen im Sinne des § 7 Abs. 5 StVO, sondern ändert seine Fahrtrichtung (vgl. OLG Hamm, NZV 2012, 73; LG Berlin, NZV 2000, 45; LG Saarbrücken: Urteil vom 04.05.2012 - 13 S 201/11). Der Ausfädelungsstreifen gehört nicht zur durchgehenden Fahrbahn.

Muss der Ausfädelungsstreifen von Anfang benutzt werden?

Es besteht keine Pflicht, den Ausfädelungsstreifen von Beginn an zu befahren. Aufgrund der bestehenden Rückschaupflicht des Abbiegenden können bei späterem Abbiegen auch mögliche Gefahren ausgeschlossen werden.

Darf auf dem Ausfädelungsstreifen schneller gefahren werden?

Zu Lasten des Klägers geht der Verstoß, dass er gegen § 7a Abs. 3 StVO verstoßen hat. Demnach darf auf einem Ausfädelungsstreifen nicht schneller gefahren werden, als auf dem durchgehenden Fahrstreifen. Aufgrund der Unfallschäden kann darauf geschlossen werden, dass der Kläger am Fahrzeug des Beklagten rechts vorbeigefahren sein muss, bevor es zum Unfall kam.

Ob der Kläger tatsächlich verbotswidrig den Seitenstreifen benutzt hatte, konnte durch die Beweisaufnahme nicht nachgewiesen werden. Möglich wäre auch gewesen, dass der Kläger von Beginn an den Ausfädelungsstreifen benutze und der Beklagte "verspätet" auf den Ausfädelungsstreifen abbog.

Dem Kläger ist ein deutlich höherer Verschuldensvorwurf zu machen als dem Beklagten. Die Haftungsquote beträgt 2/3 zu 1/3 zulasten des Klägers.

Gericht:
Amtsgericht Esslingen, Urteil vom 12.12.2013 - 3 C 1365/13

Rechtsanwältin Bettina Ketzmerick
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