Immer wieder lässt sich bei der Durchsicht von Prüfungsarbeiten feststellen, dass die meisten BearbeiterInnen ein großes Fundament an dogmatischen Wissen im jeweiligen Fach aufweisen, das Gutachten an und für sich jedoch nicht hinreichend zufriedenstellend aufgebaut wird und somit kostbare Punkte verschenkt werden.
Den bei StudentInnen besten Aufbau findet man zumeist bei Arbeiten im Strafrecht: Wie ein roter Faden ziehen die zahlreichen - mehr oder weniger verbindlichen - Prüfungsschemata den/die BearbeiterIn durch die Klausur. Dieses Abspulen der Schemata führt im Regelfall zu einer optimal strukturierten Klausur.
Das praktisch diametrale Gegenteil hierzu stellt das Staatsorganisationsrecht dar. Wie auch generell im Öffentlichen Recht, welches nicht umsonst als "prüfungsschematafreundlichstes Rechtsgebiet"2 bezeichnet wird, sind hier Schemata rar. Der rote Faden fehlt hier und der Aufbau endet schnell im Chaos. Um auch hier Struktur zu bewahren, werden erhöhte Anforderungen an den/die BearbeiterIn gestellt. Das Minus an Auswendiglernen von Schemata resultiert so in ein Plus an eigenverantwortlicher Strukturierung des Gutachtens.
Im Folgenden soll ein einfaches Drei-Schritte Schema zur Bearbeitung staatsorganisationsrechtlicher Klausuren vorgestellt werden. Es soll gezeigt werden, wie auch im Staatsorga ein seriöses und gut strukturiertes Gutachten gelingt, welches eben nicht in einem bloßen Besinnungsaufsatz endet.
A. Zulässigkeit(-sprobleme)
Dieser Prüfungspunkt ist bezüglich der Strukturprobleme relativ einfach zu handhaben, denn es existieren für die verschiedenen Klagearten etablierte Schemata. In ihrem Aufbau ähneln sie sich teilweise, der Bund-Länder Streit verweist im Zuge einer Gesetzesanalogie sogar auf das Organstreitverfahren. Die wirklich relevanten Schemata im Staatsorganisationsrecht sind:
- Organstreitverfahren (Art. 93 I Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG)
- Bund-Länder Streit (Art. 93 I Nr. 3, §§ 13 Nr. 7, 68 ff. BVerfGG)
- Abstrakte Normenkontrolle (Art. 93 I Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG)
Eher selten kommt auch die "konkrete Normenkontrolle" vor. Zumindest in den Anfängerklausuren kommen die Probleme der Wahlrechtsprüfung, der Präsidentenanklage, der Grundrechtsverwirkung, des Parteiverbots und andere regelmäßig nicht vor (beachte eventuelle Sonderhinweise des/der DozentenIn).
Die Zulässigkeit ist gewissermaßen nach dem Deckblatt der erste Eindruck der Klausur gegenüber dem Korretor/der Korrektorin. Ergo sollte diese flüssig und mit der gebotenen Sorgfalt geschrieben werden. Ein sauberes Ausarbeiten der Voraussetzungen ist hier ein Gewinn, eine tiefere Beschäftigung mit den einzelnen Prüfungspunkten ist meistens mangels Sachverhaltsangaben, welche eine solche Prüfung rechtfertigen würden, nicht geboten.
B. Begründetheit:
Die Begründetheit stellt in der Staatsorga-Klausur regelmäßig den Schwerpunkt dar. Innerhalb dieser sollte zunächst einmal auf einem Schmierzettel eine Schnelllösung des Problemkomplexes aufgeschrieben werden. Neben dem einschlägigen (Struktur)Prinzip sollten die Hinweise innerhalb des Sachverhalts rausgeschrieben werden und unter Berücksichtigung des Prinzips kurz subsumiert werden (auch hier bieten sich einfache Stichpunkte bzw. Zeichen wie + und - an). Wie immer gilt: Die Gewichtung ist nicht nur für die Note, sondern auch für die Struktur wichtig. Für relativ unproblematisches einen ganzen Problemabriss zu erstellen ist im Extremfall nicht nur falsch, es lässt auch eine stringente Leitung des Lesers/der Leserin zur Bearbeitung und Beantwortung des eigentlichen Problems missen, was zwangsläufig zum Punkteabzug führt.
I. Das gesamte Prüfungsprogramm sollte nach dem Prinzip "Vom allgemeinem zum speziellen" ablaufen.
Somit ist es zunächst wichtig, dass das einschlägige Prinzip im ersten Prüfungspunkt weitestgehend abstrakt und losgelöst vom Fall zu beschrieben wird. Damit die Prüfung nicht zu abstrakt wird, sollte immer eine Gegenprüfung im Kopf mit dem Obersatz stattfinden: Wird das für den Obersatz einschlägige Prinzip abstrakt beschrieben, so ist man auf dem richtigen Weg.
Zum Abschluss der Ausführungen muss dann nur kurz festgestellt werden, dass das einschlägige Prinzip überhaupt tangiert wird. Hier und nur hier ist ausnahmsweise ganz konkret auf den Sachverhalt einzugehen.
Als Überschrift für den Prüfungspunkt eignet sich hier der Name des Prinzips.
II. In einem nächsten Schritt wird dann dargelegt, inwiefern dieses Prinzip auch Einschränkungen unterworfen sein kann, bzw. wo dessen Grenzen in der vorliegend einschlägigen Fallgruppe vorzufinden sind.
Auch hierbei sollte die im Sachverhalt potenziell einschlägige Einschränkung aufgezeigt werden. Als Überschrift für diesen Prüfungspunkt eignet sich etwa "Grenzen des Prinzips" oder "Einschränkungen".
III. Im letzten - und punkteträchtigsten- Schritt findet die Anwendung auf den konkreten Fall statt.
Hier ist nun der Sachverhalt im Lichte der oben entwickelten/hergeleiteten Prinzipien umfassend auszuwerten und zu subsumieren. Als Überschrift für diesen Prüfungspunkt sollte "Anwendung auf den vorliegenden Fall" verwendet werden.
Fallbeispiel
Da diese sehr abstrakten Beschreibungen nicht gänzlich erhellend sind, soll nachfolgend ein kleines Gutachten, welches vom Inhalt her keinerlei Vollständigkeit beansprucht, wohl aber den Aufbau wie oben beschrieben umsetzt weitere Klärung schaffen.
Sachverhalt:
"Die Bundesregierung beschließt, dass die bereits geltende 5%-Hürde auf 10% angehoben wird. Dies geschieht formell verfassungsgemäß. Begründet wird dies damit, dass nur so eine drohende Zersplitterung des Parlaments aufzuhalten sei. Immer mehr kleinere Parteien stoßen ins Parlament vor und behindern die Arbeit der Regierung massiv. Der Abgeordnete A beauftragt Sie zur Erstellung eines Gutachtens über die materielle Verfassungsmäßigkeit der Anhebung der Klausel."
Obersatz: Die Anhebung der Hürde auf 10% ist dann verfassungsgemäß, wenn sie im Einklang mit den Regelungen des Grundgesetzes ist, insbesondere kein verfassungsmäßiges Prinzip verletzt. Vorliegend kommt ein Verstoß gegen Art. 38 I 1 GG in der Ausprägung der Wahlrechtsgleichheit in Betracht.
Art. 38 I GG enthält verschiedene Prinzipien, der Sachverhalt lässt jedoch nur Raum für die Wahlrechtsgleichheit. Im Obersatz sollte das Prüfungsprogramm somit direkt auf das wesentliche beschränkt werden.
I. Wahlrechtsgleichheit: Die Wahlrechtsgleichheit aus Art. 38 I 1 GG wird bei der Wahl von Parteien aufgeteilt in einer Zählwert- und Erfolgswertgleichheit (aktive Wahlrechtsgleichheit).
Zwar enthält Art. 38 I 1 GG auch die passive Wahlrechtsgleichheit als Prinzip, bezüglich der Aufgabenstellung wäre es jedoch völlig widersinnig diese großartig aufzuzeigen. Eine solche Beschränkung der Darstellung ändert jedoch nichts am abstrakten Charakter des ersten Prüfungspunkts!
Das Prinzip der indirekten, repräsentativen Demokratie (des Grundgesetztes) und der Volkssouveränität (Art. 20 I, II GG) gebietet es, dass jeder Wähler (im Volk) optimal repräsentiert wird. Folglich muss auch wegen Art. 3 I GG jede Stimme gleich stark sein, ergo der Zählwert der Stimmen identisch sein. Ein Klassenwahlrecht wie zu Zeiten Preußens, welches das Stimmgewicht am Einkommen orientierte wäre hiernach schlicht unzulässig.
Der Erfolgswert garantiert, das Gewicht zwischen der Anzahl der Stimmen und der Macht im Parlament bzw. die Anzahl der Mandate. Hierbei muss ebenfalls Gleichheit gewahrt sein, theoretisch also jede Stimme denselben Einfluss auf die Regierungskonstellation im Parlament haben.
Vorliegend möchte die Regierung die Sperrklausel auf 10% anheben. Der Erfolgswert aller Parteien, die weniger als 10% der Stimmen bei einer Wahl erreichen resultiert folglich auf 0. Das Prinzip der Erfolgswertgleichheit ist somit tangiert.
II. Grenzen des Prinzips: Fraglich verweilt indessen, ob jede Erfolgswertungleichheit schlichtweg verboten ist.
Legitimiert wird die Einschränkung auf eine bestimmte Prozentklausel durch zwingende Gründe, konkret durch die Funktionsfähigkeit des Parlaments. Insbesondere die Erfahrungen zu Zeiten der Weimarer Reichsverfassung, der eine solche Einschränkung durch Sperrklausel fremd war zeigten, dass dies zur Entstehung von Splitterparteien führen kann, welche die Regierungsfähigkeit stark einschränkt. Ähnliches ist in Italien, welche ebenfalls keine Sperrklausel kennen, zu beobachten.
III. Anwendung auf den konkreten Fall: Die Bundesregierung argumentiert vorliegend, dass eine drohende Zersplitterung die Funktionsfähigkeit des Parlaments einschränke.
Ab hier ist nun ganz konkret auf den Sachverhalt einzugehen und unter den oben entwickelten Gesichtspunkten zu subsumieren.
Aufgabe einer Demokratie ist jedoch auch gerade der Vorgang der gemeinsamen Konsensbildung im Zuge eines Diskurses und die damit einhergehende Repräsentation des gesamten deutschen Volkes. Bloßes Schwierigkeiten oder behauptete Instabilitäten (die Bundesregierung hat die Existenz dieser vorliegend nicht näher Begründet) stellen keinen hinreichenden Legitimationsgrund da.
Festzuhalten ist, dass eine angemessene Klausel zur Stabilisierung des Parlaments anzuwenden ist. Diese steht im Spannungsverhältnis zum Demokratieprinzip, Art. 20 II 1 GG. Ein schonender Ausgleich ist bereits bei 5% erreicht, bedenkt man, dass diese 5% eine Fraktion bilden können, wo der größte Teil der politischen Arbeit stattfindet, mithin von einer wirklichen Behinderung der politischen Arbeit nur in Ausnahmefällen auszugehen ist. Diese Behinderung steht der Opposition als ihr gutes Recht regelmäßig auch zu, stellt ergo keinen "Instabilitätsgrund" dar. Die Anhebung der Klausel auf 10% erscheint insofern unangemessen, da ein zu großer Teil der Bevölkerung nicht repräsentiert wird.
Endergebnis: Das Gesetz ist materiell verfassungswidrig.
Der Verfasser ist Betreiber des Blogs der.jurabote.de
2Diese Bezeichnung ist völlig zutreffend und zu finden bei: VALERIUS, BRIAN; Einführung in den Gutachtenstil; S. 163; 3. Auflage; Heidelberg.
Unser Dank für diesen Beitrag gilt Jaschar. R. A. Kohal - Universität Bonn